Lesung Georg Martin
"Wir leben in einem Fragmentenfeuerwerk!“
Der Wallauer Schriftsteller Georg Mertin über den Wunsch nach Gerechtigkeit, Heimat und das bleibende Trauma des Vergangenen
Im Frühjahr dieses Jahres erschien Georg Mertins erstes Buch: Mit „Die Hemdvermesser“ hat der Wallauer Künstler und Schriftsteller ein Werk vorgelegt, das viele Fragen stellt und sich traut, sie unbeantwortet zu lassen. Es geht um Identität und Heimat, aber auch um Familie und deren Traumata, die über Generationen vererbt werden. Darin eingeflossen sind eigene Erfahrungen, die Mertin als Sohn einer Ungarndeutschen machte, noch dazu als zugezogene Familie in einem kleinen Dorf im hessischen Hinterland. Dennoch: Es ist kein autobiographisches Werk, wie Georg Mertin im Interview erzählt. Nach einigen Auslandsaufenthalten lebt er nun wieder in Wallau in seinem Elternhaus. Hier ist er sesshaft geworden – mit einem Atelier und einer Druckpresse im Dachgeschoss.
Georg Mertin hat in Marburg und Frankfurt studiert. Er hatte Lehraufträge an den Universitäten in Marburg, Gießen und Canberra inne und arbeitete als Koch in Paris. Seit mehreren Jahren bereits ist er als Lehrer für Kunst am Gymnasium Lahntalschule Biedenkopf tätig. Obwohl, wie er sagt, das Schreiben in seiner Jugend der Anfang seines künstlerischen Ausdrucks war, ist sein Werdegang als Künstler – von einem Kunststudium über zahlreiche Ausstellungen bis hin zu seiner Tätigkeit als Lehrer für Kunst - von der bildenden Kunst geprägt. Geschrieben habe er zwischendurch immer wieder, berichtet er, doch es habe noch die Substanz gefehlt, um ein Buch zum Abschluss zu bringen. Nun, nach seinen Auslandsaufenthalten und dem Tod der Mutter, der ihn dazu brachte, sich noch mehr mit seinen Wurzeln als Sohn einer Ungarndeutschen und eines zugezogenen aus dem Ruhrgebiet auseinanderzusetzen, hatte er Stoff genug für einen Roman. Seine Spurensuche führte ihn in die Heimat seiner Mutter, der Frau, die ihm das Kochen beibrachte, die zwei Heimaten und dann doch vielleicht keine hatte – ähnlich wie der Autor selbst es beschreibt.
Die Auseinandersetzung mit der Nachkriegszeit machte ihm einmal mehr klar, dass die Geschichte der Ungarndeutschen, die sich – ähnlich wie heute Migranten – weder in ihrer alten noch in ihrer neuen Heimat heimisch fühlen konnten, bis heute nicht auserzählt ist. Zum anderen merke er, dass es erhebliche Unterschiede gibt zwischen der offiziellen, wissenschaftsorientierten Geschichtsschreibung in den Fachbüchern und dem tatsächlichen Erleben der einzelnen Menschen. „Isoliert betrachtet liefern beide Wahrheiten ein verzerrtes Bild“, so seine Feststellung, „Literatur bietet eine gute Möglichkeit einer anderen Lesart dieser beiden Sichtweisen. Das ist ein ganz entscheidender Punkt für das Buch. Mein Buch kann eine dritte Ebene bilden und ganz bewusst mit der Biegung geschichtlicher Wahrheiten spielen, um eine übergeordnete Wahrheit zu suchen.“
Doch Georg Mertin blickt keinesfalls nur zurück. Seine Geschichte von den Verwundeten und Geflohenen, den Entwurzelten und Heimatlosen, den Tätern und Opfern reicht bis in die Gegenwart, denn der Autor ist sicher, dass traumatische Erfahrungen von Eltern und Großeltern sich auf die Nachfolgegenerationen vererben und damit Einfluss auf deren Tun nehmen – ungewollt, aber unausweichlich. Kein Wunder, dass vor diesem Hintergrund auch das Thema Heimat für den Zugezogenen, Weitgereisten und Zurückgekehrten den Roman mitbestimmt. Dabei ist Heimat für ihn kein Ort: „Meine Heimat liegt in meiner Sprache und in allem, was sie speichert. Bilder für Kultur, für Politik.“ Die wiederaufkeimende, dieser Tage häufig verklärte Sehnsucht nach Heimat ist für Georg Mertin Ausdruck von Verunsicherung, denn Heimat schaffe Klarheit und Struktur: „Die aktuelle Entwicklung zeigt ja deutlich, dass es Klarheit ist, wonach die Menschen sich sehnen. Sie sehnen sich nach einer Orientierung. Unsere Welt jedoch ist ganz anders: ein zusammengeschredderter, unüberschaubarer Haufen. Wir leben in einer Flut an Informationen, in einem Fragmentenfeuerwerk, was kaum auszuhalten ist. Und wenn ich das gar nicht mehr aushalten kann, dann rufe ich ‚Heimat‘ und meine damit Orientierung und Überschaubarkeit.“
Dass Leben brüchig ist, manchmal erst im Nachhinein verstanden wird und von vielen vergangenen und gleichzeitig geschehenden Ereignissen bestimmt ist, drückt sich auch in Mertins unchronologischem Erzählstil aus. Dieser macht es dem Leser nicht leichter, dem Buch zu folgen, doch Mertin konnte sein Thema nicht anders anlegen: „Der kommerzielle, herkömmliche Roman macht etwas, das es im echten Leben nicht gibt: Er erzeugt Kontinuität, tut so, als ob alles in einer ordentlichen chronologischen Reihe abläuft. Aber diese Erzählweise wird der Geschichte nicht gerecht. Unser Leben, und insbesondere das von Flüchtenden und Vertriebenen, ist doch ein Riesendurcheinander!“ Mertin scheut sich demnach auch nicht, lose Ende zurückzulassen, für den Leser am Ende nicht alles aufzulösen. Weil auch genau das in der Realität so ist und ausgehalten werden muss. Auf die Spitze getrieben ist dieses Nichtaufzulösende in den Titel gebenden „Hemdvermessern“.
Deren ganzer Auftritt ist unerklärlich, nebulös und doch spektakulär. „Die Hemdvermesser tun etwas, das wir uns alle manchmal wünschen, aber was tabuisiert wird: Sie rächen sich an den Schweinen“, fasst Georg Mertin ihr Tun zusammen und interpretiert die heimliche Freude der Leser als eine Sehnsucht nach einer Gerechtigkeit schaffenden Instanz, die es so ja nicht gibt und insbesondere in der Aufarbeitung der Verbrechen Nazideutschlands nicht in ausreichendem Maße gab. „Die Hemdvermesser bringen Tiefe in den Roman, sie treten an den Abgrund der totalen Amoralität und zwingen den Leser dazu, sich damit auseinanderzusetzen, was Gerechtigkeit ist. Der Leser kann sich ja selbst ein Urteil über die Hemdvermesser bilden. Er muss sie ja nicht gut finden. Sie sind keine Personen, sondern sie stehen für ein Prinzip, sie tauchen auf und arbeiten geisterhaft. Sie sind körperlos, aber sie sind da – eine Projektionsfläche, vielleicht wie der liebe Gott.“
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